Kinder, Schule und Probleme

Schule und kein Ende der Plackerei

Was lernen Kinder eigentlich in der Schule? Ich habe mich das in letzter Zeit häufiger gefragt. Es wird ja viel darüber geschrieben, dass es immer mehr ADHS-Kinder gäbe und immer mehr übergewichtige Kinder und immer mehr Kinder, die psychotherapeutischer Behandlung bedürfen.
Kinder sind doch so ein Bündel an sprudelnder Fröhlichkeit und Energie? Kinder freuen sich auf die Schule, sie wollen lernen, sie fragen den Eltern Löcher in den Bauch, sie wollen alles ausprobieren. Wohin verschwindet das alles? Eltern berichten mir von den anstrengenden Nachmittagen mit der Hausaufgabenbetreuung, von schulunwilligen Kindern, von Gesprächen mit Lehrern, dass das Kind nicht normal sei, von Streits zwischen den Eltern deswegen. Was passiert da? Die Eltern hatten sich einmal über ihre Kinder gefreut, es ist doch ein großes Glück, diese zarten Wesen begleiten zu können. Und jetzt? Stress! „Die Schule hat angefangen.“

Ich möchte es einmal so betrachten. In der Schule wird hauptsächlich gesessen. Möglichst wenig Bewegung ist gefordert, möglichst wenig Initiative, möglichst wenig spontanen Impulsen folgen, möglichst wenig reden, möglichst wenig selbst machen. Vielleicht nach Vorgaben der Lehrerin darf sich bewegt werden oder gesprochen oder gedacht werden. Sonst bitte nicht. Was ist aber mit der ganzen Energie, die sich in diesen lebendigen, spontanen, neugierigen, überschäumenden jungen Wesen bewegt? Wo soll sie hin? Sie muss unterdrückt ja werden, kanalysiert werden, woanders rausgelassen werden, hinuntergeschluckt werden, weggeträumt werden. Das kann nicht gut gehen. Was lernen Kinder hauptsächlich demnach: „Ich muss still halten, solange mich jemand beobachtet. Dann muss ich die Sau rauslassen, weil ich sonst verrückt werde.“ Diagnose: ADHS. Oder das Kind lernt: „Ich muss still halten und damit ich es aushalte, schalte ich mich ab und die Gamestation ein.“ Diagnose: ADS. Oder: „Essen hilft, dass alles drin bleibt, was sonst raus will.“ Diagnose: „Übergewicht“. Oder „Schule ist blöd, ich will da nicht mehr hin“ Diagnose: Schulverweigerer. Oder „Ich bin zu dumm, ich kann das nicht.“ Diagnose: Schulversagen.

Ich beobachtete im Zug eine Mutter mit einem Kleinkind und einer etwa 6-jährigen Tochter. Die Tochter sollte still neben ihr sitzen. Sie wollte aber aufstehen. „Aber nur aufstehen, nicht herumgehen“, war die Anweisung der Mutter. Die Tochter fing an, etwas hin und her zu gehen. „Aber nicht so weit weg“! Die Tochter ging weiter weg, sie rannte oder hüpfte ein wenig. Die Mutter fing an zu schimpfen, „jetzt komme her und bleib bei mir“. Sie holte die Tochter auf ihren Schoß. Dort krümmte sie sich und wollte auf den Boden rutschen. Das Mädchen konnte sich sichtlich kaum noch beherrschen, es litt unter der verordneten Bewegungseinschränkung wie ein Tiger im Käfig. Ich kam mit der Mutter ins Gespräch. Seit 8 Stunden waren sie schon unterwegs mit der Bahn! Fahrgäste hätten sich beschwert über ihre Tochter, weil sie so unruhig sei. Deswegen die Ermahnungen. Meine Güte, dabei ist doch Bahnfahren gerade deswegen bei Kindern so beliebt, weil sie sich da mehr bewegen können als im Auto.

Wenn ein Kind die Schule erfolgreich abschließt, hat es gelernt: „wenn ich mich beherrsche, meine spontanen Bedürfnisse unterdrücke und immer so schnell wie möglich erfasse, was die Erwachsenen von mir wollen, dann bekomme ich Anerkennung“. Das Kind denkt „wenn ich dann erwachsen bin, kann ich endlich machen, was ich will.“ Aber leider ist es dann zu spät. Denn das Gelernte steuert automatisiert die Gedanken und Handlungen. Das Kind wird sich weiter beherrschen und anpassen und unterdrücken und es wird damit erfolgreich sein. Denn solche Kinder sind gefragt in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Politik. Sie sind erfolgreich, aber nicht froh. Sie sind anerkannt, aber es ist nie genug.

Die Kinder, die in der Schule nicht erfolgreich waren und keine Anerkennung bekamen, die haben gelernt: „Ich bin dumm. Niemand mag mich. Ich habe nichts zu bieten, was irgendjemanden interessiert.“ Sie werden sich zur Arbeit widerwillig zwingen, wie zur Schule. Aber nach Feierabend werden sie schnelle Autos fahren oder konsumieren oder Süchten frönen, alles was sie früher schon irgendwie getröstet hatte. Sie werden etwas Spaß haben, aber nicht froh sein.

Ich gebe zu, dass das etwas plakativ ist. Natürlich gibt es andere Varianten. Ich hoffe aber, dass ich so ein gesellschaftliches Grundproblem darstellen konnte, mit dem Kinder heute aufwachsen müssen.

Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker

Weitere Informationen:
„Alphabet“ der Film
Franz Josef Neffe „Die neue Ich kann Schule“

Verhaltenstherapie - Eine Erklärung

Verhaltenstherapie – Ein kraftvolles Werkzeug

Sie können davon ausgehen, dass ein hoher Prozentsatz des Verhaltens automatisiert abläuft und Sie sich dessen nicht bewusst sind. Der Mensch entwickelt komplexe soziale Verhaltensmuster im Verlauf der individuellen Lebensgeschichte, weil er bestimmte Wünsche und Bedürfnisse hat, die mehr oder weniger unter bestimmten Bedingungen im Elternhaus erfüllt werden. Diese Muster bleiben meistens ein Leben lang bestehen, auch wenn sich die Lebensumstände geändert haben.

Sie dürfen sich zu Recht fragen: Wenn ich angeblich automatisiert handle, wo bleibt da mein freier Wille?
Der freie Wille ist erst dann gegeben, wenn Sie die Wahl haben. Und die Wahl haben Sie erst, wenn Sie wissen wofür oder wogegen Sie sich entscheiden möchten. Das können Sie aber erst dann, wenn Sie wissen, welche Alternativen es gibt und welchen Nutzen sie bieten. Das Elternhaus ist für ein Kind das wichtigste Bezugssystem, wo es sich anpassen muss und seine ersten und wichtigsten Schlüsse über das Leben zieht. Da hatten Sie nicht viele Wahlmöglichkeiten. In der sogenannten Bedingungsanalyse rolle ich mit Ihnen diese Lerngeschichte wieder auf, um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, dass ein Mensch so denkt, fühlt und handelt, wie er es eben tut. Warum er/sie – noch – nicht anders kann, als es eben genau so zu machen.

Zu Beginn einer Therapie arbeite ich erst einmal gerne mit der Mikroanalyse, die genau untersucht, was in einer bestimmten Situation bei Ihnen abläuft. Und zwar in dem Moment, wo sich entscheidet, wie sie handeln oder nicht handeln. Es betrifft in der Regel einen Zeitraum von maximal einer Sekunde, in dem alles abläuft: die Auslöser, die Gedankenprozesse, die emotionale Reaktion, die darauf folgende Handlung. Wenn Sie das verstehen lernen, dann haben Sie den ersten Schritt zur Selbsterkenntnis getan. Selbsterkenntnis ist sehr wichtig für den Heilungsprozess, denn nur das, wofür Sie Bewusstsein haben, können Sie verändern.

Für Bedingungsanalyse und Mikroanalyse habe ich eine spezielle Fragetechnik entwickelt, mit der wir auch vorbewusste und unbewusste psychische Prozesse auffinden können. Mit dieser Fragetechnik ist es möglich, in tiefere Schichten der Psyche zu gelangen, wo die unbewussten Motive des Handelns verborgen sind.

Die Ergebnisse dieser Erforschung der individuellen psychischen Motivstruktur bespreche ich ausführlich, damit die Patienten/Innen sich selbst besser verstehen, besser annehmen können und die nächsten Schritte im therapeutischen Prozess mittragen können. Sie werden also in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, wie sie weiter leben wollen und was sie dafür tun möchten.

In meiner Praxis in Mering bei Augsburg arbeite ich mit kognitiver Verhaltenstherapie. Kognitiv heißt „gedanklich“, was betont, dass es auch um die geistige Verarbeitung von Situationen geht. Gedankenprozesse können eine psychische Störung verursachen, verschlimmern oder aufrecht erhalten. Kognitive Verhaltenstherapie wird bei allen psychischen Störungen (wie z.B. Depressionen, Ängsten, Zwangsstörungen, Essstörungen, Burnout …) angewandt. Sie hat sich seit den 80iger Jahren stark weiter entwickelt und ist heute ein Verfahren mit umfangreichem Repertoire, das die Lerngeschichte, Gedanken, Emotionen, Verhalten und das Zusammenspiel aus allem berücksichtigt.

Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker

Schematherapie im Fokus

Schematherapie – Das Leben neu erfinden

Amerikanische Verhaltenstherapeuten um Jeffrey Young stellten fest, dass sie mit vielen Patienten/innen nicht voran kamen, weil diese sich nicht auf Veränderungen einlassen konnten oder wollten. Sie erforschten, was die Hintergründe waren. Dabei stießen sie auf verschiedene Schutzmechanismen, die die Psyche aufbaut, um Sicherheit, Selbstwertstützung und Anerkennung zu erlangen. Die Schutzmechanismen werden jedoch zu Hindernissen in der Psychotherapie – wie auch im Leben.

Schematherapie ist eine von vielen Weiterentwicklungen der kognitiven Verhaltenstherapie.
Ich verwende den Begriff „Schema“ so, wie ihn Jeffrey Young geprägt hat. Unter Schema versteht er eine feste Abfolge von individuellen Verhaltensweisen (auch gedanklich und emotional) in einer bestimmten Situation. Schemata entstehen durch Ereignisse und Erfahrungen in der Kindheit, die sich eingeprägt haben und heute noch durch Überzeugungen, Vermeidungsstrategien, Fühl- und Denkmuster, Gewohnheiten oder Vorstellungen das Leben bestimmen. Sie sind zu verstehen als Schutzmechanismen, als Anpassungsprozesse oder als Vermeidungsstrategien.

Das betrifft eigentlich alle Menschen gleichermaßen, wir alle erlernen in unseren frühen Beziehungen prägende Bewältigungsstrategien, die uns glauben lassen, wir wüssten, wie das Leben wirklich ist und wie wir uns darin sicher bewegen können. Kurz- und mittelfristig sind diese Strategien durchaus erfolgreich, sie haben sicher auch ein größtmögliches Maß an Gesundheit in der Kindheit ermöglicht. Langfristig auf das Leben gesehen, können diese Strategien aber auch schaden und eine psychische Störung verursachen. Das tückische an einem Schema ist, dass man nicht merkt, dass es existiert und das Handeln steuert. Es wird eher dadurch zum Thema, dass immer wieder dieselben Probleme in Beziehungen, im Beruf oder im Alltag auftauchen. Etwas wiederholt sich und alles, was die Person versucht hat zu verändern, hat nichts geholfen.

Wenn Sie schon einmal versucht haben, eine schlechte Gewohnheit abzulegen, wie z.B. sich das Rauchen abzugewöhnen, dann wissen sie, wie schwer es ist, so etwas zu verändern. Dass Sie etwas verändern möchten, aber „nicht können“. So ist es auch mit Schemata. Sogar noch schlimmer, denn sie aufzugeben erscheint erst einmal gefährlich, es macht Angst, es erscheint als Risiko. Man möchte daran festhalten, weil es einmal eine gute Lösung gewesen war. Der psychische Schmerz, der das Schema einmal notwendig gemacht hat, will nicht wieder erlebt werden. Das ist verständlich.

In der Schematherapie erarbeiten wir deshalb zuerst ein Bewusstsein für das, was geschieht. Wenn dann klar wird, dass eine automatisierte Abfolge von Reaktionsweisen vorliegt und eine Veränderung vor Vorteil wäre, dann gehen wir an die Entstehungsgeschichte des Schemas. Dazu verwendet man in der Schematherapie die Arbeit mit Vorstellungsbildern, die die Patienten/innen spontan aus ihrer Kindheit erinnern, sobald sie sich auf ihre Emotionen einlassen. In diesen Szenen liegen die Ursprünge des schematischen Verhaltens und die Möglichkeit, alles zu verstehen, die Wahrheit zuzulassen und sich selbst neu zu erfinden. Aber auch, wenn man sich nicht an spezielle Ursprungsszenen erinnern kann, habe ich verschiedene andere Techniken zur Lösung des emotionalen Schmerzes, der einem Schema zugrunde liegt, erfolgreich erprobt.

Dann folgt das Üben im Alltag. Dazu braucht es Geduld und Selbstliebe. Es ist von zentraler Bedeutung in diesem Prozess wie auch bei allen Lernprozessen, dass die Patientin, der Patient lernt, sich selbst zu lieben. Und zwar nicht in in der Zukunft, wenn irgendein erwünschter Idealzustand erreicht ist, sondern genau hier und genau jetzt, mit all den Unfähigkeiten, Schwierigkeiten, körperlichen Beschwerden usw. Solange jemand sich innerlich verurteilt, ablehnt oder antreibt, wird sie/er in der Therapie, im Leben und in der persönlichen Entwicklung keine Fortschritte machen. Was Sie ablehnen, wird Sie boykottieren. Was Sie verurteilen, will nicht heilen. Was Sie nicht akzeptieren wollen, klebt an Ihnen. Es bedeutet nicht, dass Sie so bleiben werden, wie jetzt. Nein, im Gegenteil. Erst wenn Sie sich annehmen, sich selbst akzeptieren, liebevoll betrachten, mitfühlend mit sich sind, werden Ihre versteckten Potentiale freigesetzt und die Lösung ermöglicht.

Das Umsetzen der neuen Handlungsweisen kann dann ganz leicht gelingen, so wie man ein kleines Kind liebevoll über Hürden hinweg begleitet und zum Neuen anleitet.

Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker

Buchtip zur Vertiefung: Jeffrey Young & Janet Klosko: „Sein Leben neu erfinden. Wie Sie Lebensfallen meistern.“ ISBN 978-3-87387-619-4

Selbstverwirklichung für Frieden und Glück

Selbstverwirklichung – Von der Raupe zum Schmetterling

In der Psychotherapie spielt dieses Konzept keine Rolle. Dort geht es darum, wieder zu funktionieren oder besser zu reagieren oder schlechte Gewohnheiten abzulegen. Das ist völlig in Ordnung, z.B. wenn sich jemand erst einmal aus dem Chaos freischwimmen muss. Auch das sind wichtige Schritte. Und vielleicht ist das auch genug für dieses Leben. Aber es gibt noch mehr und es kann noch viel weiter gehen.
Die Verwirklichung des Selbst ist ein spiritueller Weg. Gemeint ist das Erkennen des wahren Selbstes. Es wird auch bezeichnet als Selbstrealisation oder Entfaltung des göttlichen Selbst und gilt als Vorstufe der Erleuchtung. Das wahre Selbst wird im Buddhismus als Buddha-Natur, im Hinduismus als Atman (wie Atem oder Odem!) und im Westen als Seele bezeichnet. Zum Begriff „Seele“ gibt es unterschiedliche Definitionen in den Religionen des Westens, die westlichen mystischen Traditionen beschreiben jedoch genau dasselbe wie die östlichen. Es ist unser unsterbliches Selbst, das einen materiellen Körper bewohnt und nutzt. Was wir normalerweise als uns selbst empfinden, ist eine angenommene Identität, eine durch Erziehung und gespeicherte Erfahrungen geformte Persönlichkeit und die Identifizierung mit dem Körper. Diese psychischen Strukturen werden in den spirituellen Traditionen des Ostens als falsches Selbst bezeichnet, denn sie trennen uns von der innersten Wirklichkeit, unserer göttlichen Natur.

Das wahre Selbst ist etwas Unbekanntes, etwas Mysteriöses. Das Wort „Verwirklichung“ meint einen Prozess des Freilegens und Erfühlens dieses unbekannten SEINs und sich ihm anvertrauen lernen. Dieser Prozess geht immer weiter, bis wir erleuchtet sind. Dann erst sind wir angekommen. Das wahre Selbst braucht all die vielen materiellen und ideellen Befriedigungen nicht, es braucht keine Suchtmittel, keine Geselligkeiten, keine Karriere, keine Projekte, keinen Erfolg und keine Anpassungen an das Erwünschte. Das wahre Selbst ist vollkommen frei, furchtlos, voller Liebe und Glückseligkeit. So beschreiben es die spirituellen Meister. Und sie sagen auch, dass es sich niemand vorstellen kann, solange es nicht verwirklicht ist. Wer einen Ruf dahin verspürt, einen Drang zu etwas Höherem, eine tiefe Sehnsucht nach dem wahren Zuhause, kann sicher sein, dass es der Ruf des wahres Selbst ist.

Es beginnt vielleicht damit, dass man im Leben nicht so funktioniert oder sich alles anders entwickelt als gewünscht. Das ist zuerst meistens schmerzhaft, krisenhaft, stark verunsichernd. Aus der Sicht des wahren Selbstes jedoch, ist es etwas Positives. Dieser Mensch bekommt die Chance, aus alten Mustern auszusteigen und sich selbst neu kennen zu lernen. Er/sie hat die Gelegenheit, ein wachsendes Bewusstsein für das zu entwickeln, was in ihm/ihr geschieht. Jede Art von Psychotherapie fördert diesen Prozess. Das Leben stellt Menschen manchmal vor Herausforderungen, um sie weiter zu schubsen und ihnen auf eine höhere Ebene des Bewusstseins zu helfen. Wenn das gefordert ist, dann hilft nur noch loslassen und sich befreien von den bisherigen Ideen, wer ich bin oder nicht bin, von bisherigen Wichtigkeiten und Prioritäten materieller Art, dazu gehören z.B. auch Erfolgsgeschichten, die Idee der Wertlosigkeit oder ein Helfersyndrom. Es wird sich die Erkenntnis vertiefen, dass ich nicht weiß, wer ich bin und dass ich es erst wissen werde, wenn ich alle Ideen davon aufgegeben habe.

Unsere vermeintlichen Probleme sind dabei die besten Wegweiser. Was nicht möglich ist oder nicht mehr möglich ist, darf gehen. Dann kommt vielleicht das Festhalten, das Trauern, das Grollen und Hadern. Auch das darf gehen. Dann vielleicht der alte Schmerz, auch der darf aufgelöst werden. Und warum? Wozu? Um sich zu befreien von den alten Identifizierungen und frei zu werden für das Mysterium, das einen Menschen wirklich von ganz innen heraus zufrieden und glückselig macht.

Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker

Kinder und Erziehung

Kinder sind ganz einfach, oder?

Der Umgang mit Kindern ist einfach, wenn man sie versteht und weiß, was sie brauchen, um sich gut zu entwickeln. Die meisten Eltern wissen das jedoch nicht und handeln nach „Gefühl“, d.h. spontan und unbewusst. Die Ursache hierfür liegt nach meiner Beobachtung und meinen Studien daran, dass die meisten Menschen sich nicht mehr daran erinnern können, wie es ihnen als Kinder in den verschiedenen Altersstufen ergangen ist. Denn wenn sie das noch wüssten, könnten sie ganz leicht entscheiden, ob sie dasselbe ihren Kindern antun oder anbieten wollen oder nicht. Hat es sich gut angefühlt? War ich glücklich, zufrieden, geliebt – Dann war es gut und ist auch für meine Kinder gut. Hat es sich schlecht angefühlt? War ich traurig, einsam, enttäuscht, verletzt wegen meiner Eltern? – Dann war es nicht gut und ist auch für meine Kindern nicht richtig. So einfach wäre das.

Aber das Erinnern ist nicht einfach. Das wirkliche Erleben hat sich versteckt unter Schutzmechanismen, Anpassungsstrategien oder falschen vom Elternhaus übernommenen Überzeugungen. Die Erinerungen sind aber im Unbewussten gespeichert und werden aktiviert, sobald wir selbst Kinder haben oder mit Kindern in Kontakt kommen. Die Kinder lösen in den Eltern dieselben Gefühle und Reaktionen aus, die sie früher bei ihren Eltern oder Bezugspersonen erlebt haben. Dann reagieren die Eltern wie deren Eltern. Und sie wissen nicht warum, deswegen sagen sie: „Ich kann nicht anders“.

Ich höre und beobachte immer wieder den Umgang von Eltern mit ihren Kindern. Da ist oft Unsicherheit, Hilflosigkeit oder Ärger zu bemerken. Viele wollen es auch wirklich besser machen und richtig machen. Aber wie?

Dazu ein paar Grundsätze, um Kinder (und sich selbst als Kind) zu verstehen.

Ein Kind ist eine voll ausgereifte Seele, wenn es geboren wird. Dieses vollständige menschliche Wesen steckt zwar in einem kleinen Körper, erlebt aber schon im Mutterleib alles mit. Der Säugling nimmt hauptsächlich über die Haut wahr. Das Baby kann an der Art wie es berührt wird erkennen, ob die Person sie liebt oder nicht. Es kann im Umgang der Eltern spüren, ob es erwünscht ist, Freude bereitet oder die Eltern gern mit ihm zusammen sind. Es versucht von Anfang an, die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken und die Eltern zu erfreuen. Das gelingt natürlich nur, wenn es keine körperlichen Beschwerden hat. Mit dem Älterwerden reifen dann die anderen Sinne nach und das Kind nimmt alles wahr, kann es aber nicht richtig interpretieren. Es kann nicht unterscheiden. ob die Eltern von der Arbeit gestresst sind oder vom Kind. Es kann nicht verstehen, dass es beschimpft wird, weil die Eltern sich nicht kontrollieren können, sondern es denkt, dass es nicht liebenswert ist. Daraus folgt ganz klar und einfach: Ein Kind darf man nicht anders behandeln, als man selbst behandelt werden möchte. Ein Kind hat dasselbe Recht auf einen achtsamen und würdevollen Umgang wie die Kollegen, Freunde oder der Chef. Darüber hinaus haben aber Eltern besondere Aufgaben gegenüber einem Kind, weil es noch reifen muss: das Kind lieben, versorgen, beschützen, lernen ermöglichen und unterstützen bei den Reifungsschritten.

1. ein Kind lernt mehr durch das Vorbild als durch reden.
Z.B. wenn eine Mutter ihr Kind anschreit, dass das Kind nicht so schreien soll, dann lernt das Kind folgendes: Solange ich kleiner bin, darf ich nicht schreien, aber wenn ich größer bin als der Andere, dann darf ich den anschreien. Wenn eine Bezugsperson einem Kind also etwas beibringen will, dann muss sie das vorleben durch entsprechendes Handeln, auch dem Kind gegenüber.

2. ein Kind tut alles, um seine Eltern zu erfreuen.
Z.B. Wenn der Vater seine Tochter nur dann beachtet, wenn sie gute Noten aus der Schule heim bringt, dann wird sie alles versuchen, um gute Noten zu bekommen. Wenn ihr das nicht gelingt, dann wird sie auf andere Weise versuchen, den Vater zu beeindrucken, was aber immer eine Form von Anstrengung sein wird. Je weniger sie beachtet wurde, umso mehr wird sie sich anstrengen. Sie hat gelernt: „Allein für mich selbst bin ich wertlos. Ich muss etwas leisten, um so wertvoll zu sein, dass man mich beachtet.“

3. Ein Kind tut alles, damit die Familie funktioniert.
Z.B. Die Ehe der Eltern ist gestört, die Eltern streiten sich viel. Das Kind wird versuchen zu vermitteln, abzulenken, zu harmonisieren. Es hat dazu aber nicht viele Möglichkeiten. Es könnte vielleicht versuchen, so wenig wie möglich aufzufallen oder Ärger zu bereiten, sich anzustrengen, damit die Eltern Freude haben usw. Ein Kind wird die eigene Entwicklung dafür zurückstellen und vielleicht wenig aus dem Haus gehen, um Freundschaften zu schließen oder zu spielen. Auch Krankheit und Tod eines Elternteils rufen solche Reaktionen hervor. Oder mangelnde Belastbarkeit und Überforderung eines Elternteils.

4. Ein Kind tut alles, um gesund zu bleiben
Wenn ein Kind ohne Liebe und Fürsorge, vielleicht sogar mit Gewalt aufwächst, dann wird es Schutzmechanismen entwickeln, die ein größtmögliches Funktionsniveau ermöglichen, auch wenn es dafür andere Nachteile in Kauf nehmen muss. Es könnte sich z.B. in eine andere Wirklichkeit hineinträumen. Es könnte Verdrängungsmechanismen entwickeln bis hin zur Veränderung bestimmter Gehirmfunktionen. Es könnte sich anderen Menschen anschließen wollen, auffallen wollen oder sich apathisch zurückziehen, um sich entweder zu schützen oder die wichtigsten Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Wenn also ein Kind Auffälligkeiten oder Symptome entwickelt, dann sind sie wie unerwünschte Nebenwirkungen solcher Bewältigungsversuche.

5. Ein Kind braucht vor allem Liebe
Das ist das größte und wichtigste Bedürfnis eines Kindes. Es wird alles dafür tun. Es wird merken, wenn es daran fehlt. Es wird sich bemühen, wenigstens ein bisschen davon zu bekommen. Es wird verzweifelt sein, wenn es nicht funktioniert.

Weitere Grundbedürfnisse und Grundrechte sind:
Willkommen sein, Dazugehören, Geborgenheit, Schutz und Sicherheit, Zuverlässigkeit der Bezugspersonen, Aufmerksamkein und Beachtung, Verständnis und Mitgefühl, Wertschätzung, Anerkennung, Selbst machen dürfen, spielen und sich frei bewegen dürfen, Selbstbestimmung, Grenzen vermittelt bekommen, Gefördert-Werden, ein Vorbild haben, Intimität und Erotik, außerfamiliäre enge Beziehungen.

Je älter ein Kind wird, umso mehr rücken die letztgenannten Bedürfnisse in den Vordergrund.

Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker

Zum Weiterlesen: Jesper Juul: „Dein kompetentes Kind“

Warum die Schule oft Probleme macht für Kinder

Kinder & Schule – Wer ist hier gestört?

Ich kenne auch viele Fälle, wo die Eltern alles richtig machen: Sie lieben ihre Kinder, sie fördern sie, sie gehen achtsam mit ihnen um, sie setzen liebevoll Grenzen, sie sind ein angstfreies Vorbild, haben Zeit für die Kinder, lassen sie nicht alleine usw. Sie spüren tief in ihrem Herzen, was dem Kind gut tut und was nicht. Sie gehen darauf ein, wenn ihr Kind Bedürfnisse oder Kümmernisse mitteilt.

Dann treffen diese Eltern im Kindergarten oder in der Schule auf Pädagogen, die das ganz anders sehen. Das Kind soll getrimmt werden und sich dem System anpassen. Wenn sich das Kind quer stellt, dann sollen die Eltern Maßnahmen ergreifen, die das Kind dazu bringen sollen. Wenn das Kind auffällt und anders ist, dann ist es krank oder gestört. Oder sie hören von wohlmeinenden Verwandten oder Freunden, dass ihre Kinder seltsam seien, dass ihre Erziehungsmethoden zu lasch seien, dass da nie etwas draus wird und „uns hat das auch nicht geschadet“. Wenn die Eltern sich trotzdem nicht beirren lassen, ziehen die solche Freunde und Verwandte zurück und meiden den Kontakt.

Jetzt haben solche Eltern oft mit einer anderen Art von Unsicherheit zu kämpfen, nämlich mit der Frage: Wer ist hier gestört? Wir, das Kind oder die Anderen?

Ich versichere in solchen Fällen: Die Anderen sind gestört. Wir Menschen sind aber soziale Wesen, das bedeutet, dass wir immer beobachten, ob unsere Handlungen akzeptiert werden, damit wir dazugehören können. Wenn wir dann bemerken, dass unsere Handlungen missbilligt werden, womöglich von mehreren Seiten, dann werden wir unsicher. Das ist ganz normal. Wenn wir aber in einer Gesellschaft leben, die lebensfeindlich geworden ist, dann ist es wichtig, dem Drang zu widerstehen, dazugehören zu wollen. Denn wie sonst soll sich eine Gesellschaft verbessern, wenn nicht durch Menschen, die den Mut haben, es anders zu machen.

Im Umgang mit dem Schulsystem kann das eine echte Herausforderung werden. Das Kind erzählt, dass die Lehrerin vor der Klasse gesagt hat, es sei zu dumm. Das darf man als Eltern nicht hinnehmen. Die Lehrerin beschwert sich über das Kind, dass es Fehler in den Hausaufgaben habe und die Eltern sollten das besser kontrollieren. Die Eltern müssen sich klar machen, dass es nicht ihre Aufgabe ist, Hausaufgaben zu verbessern. Eltern merken, dass ihr Kind in der Grundschule jeden Tag 2 Stunden an den Hausaufgaben sitzt. Das Kind kommt nicht mehr zum Spielen. Spielen ist aber wichtig. Also muss man sein Kind beschützen.

Es hilft dabei, sich daran zu erinnern, dass Lehrer/innen auch nur ehemalige Kinder sind, die möglicherweise unter ungünstigen Bedingungen groß geworden sind. Dass Lehrer/innen auch gezwungen werden, sich in ein krank machendes Schulsystem einzuordnen. Dass Lehrer/innen nach bestem Wissen handeln oder eben unbewusst und automatisch wie alle Menschen. Gleichzeitig ist klar: das Kind ist ausgeliefert und muss geschützt werden. Die Bedürfnisse des Kindes gehen vor. Man darf das den Kindern auch sagen, damit sie nicht denken, sie seien gestört. Gute Ideen sind hier gefragt. Vielleicht hilft ein freundliches Gespräch mit der Lehrerin, dem Lehrer, vielleicht eine List gegenüber der Schule, vielleicht eine Vereinbarung mit dem Kind oder am besten alles zusammen. Was nach meiner Erfahrung nicht hilft, ist darauf zu hoffen, dass andere Eltern sich solidarisieren und gemeinsam etwas unternehmen.

Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker

Zum Weiterlesen:
Franz-Josef Neffe „Die neue Ich-kann-Schule“

Wir leben in Machtstrukturen

Wir leben in Machtstrukturen

Macht an sich ist neutral, weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie jemand damit umgeht. Entscheidend ist dabei der Wille, keinen Schaden anzurichten. Macht wird gut genutzt, wenn wir sie nutzen, um die uns anvertrauten Menschen, Tiere oder Sachen zu schützen und auf ihr Wohlergehen achten. Macht wird missbraucht, wenn sie für den eigenen Vorteil oder zur Befriedigung von egoistischen Wünschen ohne Rücksicht auf die Folgen für die Anderen verwendet wird. Es gibt sehr offensichtlichen Machtmissbrauch, wie z.B. Gewalt, Erpressung oder Drohungen, aber auch subtile Formen davon, wie z.B. Manipulation, emotionale Erpressung („jetzt ist Mami aber ganz traurig“), Liebesentzug oder Lob und Tadel („Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategien“, in Firmen werden dazu die Vergabe oder der Entzug von Bonuspunkten oder Prämien eingesetzt).

In einer Machtstruktur gibt es eine Hierarchie von oben nach unten, wo die höhere Position Macht ausüben kann über die untere, wo die obere Vergünstigen gewähren oder entziehen kann. Wir leben alle mehr oder weniger in Machtstrukturen, z.B. in Betrieben, Firmen, Staaten, Organisationen, Schulen usw. Auch die Familie ist eine Machtstruktur. In Machtstrukturen besteht immer die Gefahr von Machtmissbrauch. Besonders, wenn keine Öffentlichkeit vorhanden ist, die so etwas kontrollieren könnte. In einer Machtstruktur haben die Beteiligten gelernt, sich nach oben anzupassen bzw. sich zu kontrollieren, nach unten können sie sich gehen lassen oder die Anderen ausnutzen.

Die Familie ist hierarchisch strukturiert: oben sind die Eltern, wenn sie gleichberechtigt sind. In patriarchalen Gesellschaften ist der Mann noch über der Frau, die Frau ist von ihm abhängig. Die Kinder folgen darunter, sie können sich nicht wehren gegen Übergriffe oder Ausbeutung von Seiten der Eltern. Die jüngeren Kinder sind schwächer als die älteren. Wenn die Jüngsten oder die männlichen Kinder bevorzugt werden. Dann mischen sich die Machtverhältnisse etwas, widerlegen aber nicht die Struktur an sich, denn Günstlingswirtschaft ist in einer Machtstruktur üblich. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Familie ist, dass sie privat ist, d.h. nicht öffentlich und kaum einer Kontrolle unterliegt, was Machtmissbrauch begünstigt.

Das bedeutet, dass eine Versuchung vorhanden ist, die eigene Machtposition auszunutzen. Die Beteiligten einer Machtstruktur erleben diese Versuchung nur gegenüber der hierarchisch untergeordneten Person. Wenn die Beteiligten der Versuchung nicht widerstehen, dann werden sie automatisch und unbewusst der höheren Person dienen und die niedrigere missbrauchen. Ganz besonders sind Eltern dieser Versuchung ausgesetzt, weil niemand je erfahren wird, was sie tun, die Kinder haben zwar Rechte, aber keinen Anwalt. So erklären sich die Geschichten von ehemaligen Kindern, dass z.B. ihre Eltern in der Gemeinde ein gutes Ansehen hatten und engagierte Bürger waren, zu Hause aber despotisch und unfähig, für ihre Kinder da zu sein.

Ich will hier nicht eine öffentlichen Erziehung propagieren. Auch öffentliche Erziehungseinrichtungen inklusive Schulen sind Machtstrukturen und wir haben ja durch die Aufdeckung der Missbrauchsfälle in privaten Internaten, kirchlichen Erziehungsanstalten oder Jugendstrafvollzug in der früheren DDR genug Beispiele für einen schlimmen Missbrauch von Macht bekommen.

Der einzige Schutz gegen die Ausnutzung der eigenen Macht ist ein Bewusstsein für die Gefahr, die in der Macht liegt.

Jeder sollte sich bewusst machen, dass es diese Versuchung gibt. Ob Chef, ob Manager, ob Vater, Mutter Leher, ganz egal, für wie edel ich mich halte oder nach außen darstelle, ich bin dieser Versuchung ausgesetzt. Besonders, wenn ich selbst als Kind Machtmissbrauch erlebt habe. Dann habe ich entweder Angst und verschließe die Augen oder ich bin aggressiv und wiederhole, was mir angetan wurde. Ich muss ganz für mich allein vor meinem Gewissen Verantwortung für mein Handeln oder Nichthandeln übernehmen. Dazu frage ich mich immer wieder aufs Neue: Habe ich meine Macht ausgenutzt oder habe ich liebevoll gehandelt? Habe ich meine Macht genutzt, um die mir anvertrauten Menschen, Tiere und Umwelt gut zu versorgen, zu pflegen und zu fördern? Auch die umgekehrte Frage ist wichtig: Habe ich aus Angst vor einem Mächtigeren nicht gehandelt oder gesprochen? War ich zu feige und habe auf diese Weise Anderen geschadet oder Schaden ermöglicht?

Wenn wir vor uns so Rechenschaft ablegen, werden sich viele Probleme auflösen, einschließlich der Ausbeutung der Erde. Wir könnten eine Gesellschaft erschaffen, in der die Kinder ohne Angst aufwachsen und zu freien selbstbestimmten Menschen werden, die Machtmissbrauch nicht dulden und Macht richtig nutzen.

Das ist die großartige Chance, die wir als Eltern von Kindern haben. Unser Verhalten gegenüber den Kindern auf der Basis von Liebe, Mitgefühl und Achtung garantiert, dass die Familie das ist, was sie sein soll: Ein Nest voller Wärme, in dem die kleinen Küken gedeihen. Als Eltern werden wir die Früchte dieser Selbstkontrolle ernten, nämlich in einer liebevollen natürlichen Beziehung zu unseren erwachsenen Kindern.

Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker

Zum Weiterlesen:
Jesper Juul: „Dein kompetentes Kind“
Marshall Rosenberg: „Gewaltfreie Kommunikation“

Wir sind alle große Kinder

Wir sind alle große Kinder

Die Kindheit ist eine schwere Zeit, bei vielen die schwerste Zeit im Leben. In meiner Praxis höre ich häufig die Geschichten von gequälten, vernachlässigten Kindern, die die Patienten früher gewesen sind. Viele dachten „es ist vorbei“, doch solange sie nicht wirklich gefühlt und anerkannt haben, was geschehen ist, bleiben die krankmachenden Folgen gespeichert.

Erst kürzlich erlebte ich eine Situation, die gut veranschaulicht, was sich abspielt.
Eine 7 Jahre junge fröhliche aufgeweckte kleine Dame hängt an meinem Ausschnitt, ihr Gesicht lacht, aber ihre Hände haben sich festgekrallt, so dass ich sie nicht loslösen kann und sie mir fast das Kleid zerreißt. Der Vater greift ein, sie fügt sich. Was war los? Zwischen uns war vorher alles in Ordnung gewesen. Zufällig hatte ich beobachtet, wie sich eine ähnliche Szene zwischen ihr und ihrem großen Bruder ereignete. Sie saß auf seiner Schulter, riss an seinem Kopf herum, bis er sie schimpfend wieder absetzte. Danach verkroch sie sich unter dem Tisch und wirkte sehr traurig. Was war los? Zwischen den beiden gab es vorher keinen Konflikt. Zufällig hatte ich beobachtet, dass sie davor von ihrem Vater mehrfach streng ermahnt worden war, sie solle den Daumen aus dem Mund nehmen, an dem sie lutschte. Sie wirkte bedrückt und der Daumen wanderte automatisch immer wieder in ihrem Mund. Komisch, zuvor hatte ich sie nicht am Daumen lutschen sehen. Was war los? Zufällig hatte ich beobachtet, dass sie zuvor von ihrem Vater einen Klaps bekommen hatte, weil sie in der Nase gebohrt hatte. Danach war sie eine Zeitlang ganz in sich versunken und wollte nicht mehr reden. Sie wirkte sehr traurig und schockiert. Zufällig hatte ich beobachtet, wie sie sich davor an ihren geliebte Papa gehängt hatte, als sie ihn wieder sah, nachdem er eine Zeitlang woanders gewesen war.

An diesem einfachen Beispiel kann man sehr gut erkennen, wie negative kindliche Erfahrungen gespeichert werden. Meistens bekommen wir nur einen Bruchteil von dem mit, was passiert, deswegen fand ich es so lehrreich, einmal alle Sequenzen im Original zu beobachten. Das Kind erlebt alles. Es erlebt, dass der geliebte Mensch straft und Schmerz zufügt, hier weniger körperlichen als seelischen Schmerz. (Welcher Erwachsene wollte von seinem Chef einen Klaps bekommen?) Das Kind erlebt einen Schock, Wut und Traurigkeit. Alles erzeugt nervliche und chemische Reaktionen im Körper sowie muskuläre Spannungen, die nicht ausgedrückt werden können, weil es dem Kind verboten ist, auf seine Eltern wütend zu sein und sich zu wehren. Das Kind glaubt, die Eltern hätten Recht und es Unrecht, denn ihm wird das ja so erklärt. Das Kind denkt in seiner kleinen Welt: „ich bin schlecht und verdiene das, weil ich in der Nase gebohrt habe“ Die Verspannungen bleiben also bestehen und sorgen für weitere Konflikte und Enttäuschungen. Das geht solange, bis das Kind alt genug ist, um sein Verhalten besser kontrollieren zu können. Die Anspannung bleibt aber bestehen. Die Idee bleibt bestehen „ich bin schlecht“. Das Kind wird nie erfahren, dass es total in Ordnung ist, dass es eben nur nicht so gut aussieht, wenn es in der Nase bohrt. Niemand wird dem Kind erklären, dass es eigentlich die Aufgabe der Erwachsenen ist, dem Kind liebevoll beizustehen, sich das abzugewöhnen durch Aufmerksam machen und Erinnern und Loben, wenn es klappt.

Das kleine Mädchen hatte wegen dieser unscheinbaren Sache sichtlichen Kummer erlebt. Wie schlimm sind dann erst die schwereren Misshandlungen der Kinder wie Vernachlässigungen aller Art, Bestrafungen, Gewalterfahrungen, Ausbeutung und Missbrauch. Zu körperlicher Gewalt gehören alle „Ohrfeigen“, „Kopfnüsse“, Zwicken, Schubsen, mit Gegenständen bewerfen, Einsperren usw. Psychische Gewalt ist beschimpfen, beleidigen, herabsetzen, in seiner Würde verletzen, Drohen, Erpressen, nicht mehr sprechen usw. Hat es ihnen nicht geschadet? Oh doch, es hat. Je jünger das Kind war, umso mehr. Der frühere Lehrsatz „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ und die Struwelpeter-Pädagogik haben großen Schaden angerichtet bis heute.

Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker