Wir leben in Machtstrukturen

Wir leben in Machtstrukturen

Macht an sich ist neutral, weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie jemand damit umgeht. Entscheidend ist dabei der Wille, keinen Schaden anzurichten. Macht wird gut genutzt, wenn wir sie nutzen, um die uns anvertrauten Menschen, Tiere oder Sachen zu schützen und auf ihr Wohlergehen achten. Macht wird missbraucht, wenn sie für den eigenen Vorteil oder zur Befriedigung von egoistischen Wünschen ohne Rücksicht auf die Folgen für die Anderen verwendet wird. Es gibt sehr offensichtlichen Machtmissbrauch, wie z.B. Gewalt, Erpressung oder Drohungen, aber auch subtile Formen davon, wie z.B. Manipulation, emotionale Erpressung („jetzt ist Mami aber ganz traurig“), Liebesentzug oder Lob und Tadel („Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategien“, in Firmen werden dazu die Vergabe oder der Entzug von Bonuspunkten oder Prämien eingesetzt).

In einer Machtstruktur gibt es eine Hierarchie von oben nach unten, wo die höhere Position Macht ausüben kann über die untere, wo die obere Vergünstigen gewähren oder entziehen kann. Wir leben alle mehr oder weniger in Machtstrukturen, z.B. in Betrieben, Firmen, Staaten, Organisationen, Schulen usw. Auch die Familie ist eine Machtstruktur. In Machtstrukturen besteht immer die Gefahr von Machtmissbrauch. Besonders, wenn keine Öffentlichkeit vorhanden ist, die so etwas kontrollieren könnte. In einer Machtstruktur haben die Beteiligten gelernt, sich nach oben anzupassen bzw. sich zu kontrollieren, nach unten können sie sich gehen lassen oder die Anderen ausnutzen.

Die Familie ist hierarchisch strukturiert: oben sind die Eltern, wenn sie gleichberechtigt sind. In patriarchalen Gesellschaften ist der Mann noch über der Frau, die Frau ist von ihm abhängig. Die Kinder folgen darunter, sie können sich nicht wehren gegen Übergriffe oder Ausbeutung von Seiten der Eltern. Die jüngeren Kinder sind schwächer als die älteren. Wenn die Jüngsten oder die männlichen Kinder bevorzugt werden. Dann mischen sich die Machtverhältnisse etwas, widerlegen aber nicht die Struktur an sich, denn Günstlingswirtschaft ist in einer Machtstruktur üblich. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Familie ist, dass sie privat ist, d.h. nicht öffentlich und kaum einer Kontrolle unterliegt, was Machtmissbrauch begünstigt.

Das bedeutet, dass eine Versuchung vorhanden ist, die eigene Machtposition auszunutzen. Die Beteiligten einer Machtstruktur erleben diese Versuchung nur gegenüber der hierarchisch untergeordneten Person. Wenn die Beteiligten der Versuchung nicht widerstehen, dann werden sie automatisch und unbewusst der höheren Person dienen und die niedrigere missbrauchen. Ganz besonders sind Eltern dieser Versuchung ausgesetzt, weil niemand je erfahren wird, was sie tun, die Kinder haben zwar Rechte, aber keinen Anwalt. So erklären sich die Geschichten von ehemaligen Kindern, dass z.B. ihre Eltern in der Gemeinde ein gutes Ansehen hatten und engagierte Bürger waren, zu Hause aber despotisch und unfähig, für ihre Kinder da zu sein.

Ich will hier nicht eine öffentlichen Erziehung propagieren. Auch öffentliche Erziehungseinrichtungen inklusive Schulen sind Machtstrukturen und wir haben ja durch die Aufdeckung der Missbrauchsfälle in privaten Internaten, kirchlichen Erziehungsanstalten oder Jugendstrafvollzug in der früheren DDR genug Beispiele für einen schlimmen Missbrauch von Macht bekommen.

Der einzige Schutz gegen die Ausnutzung der eigenen Macht ist ein Bewusstsein für die Gefahr, die in der Macht liegt.

Jeder sollte sich bewusst machen, dass es diese Versuchung gibt. Ob Chef, ob Manager, ob Vater, Mutter Leher, ganz egal, für wie edel ich mich halte oder nach außen darstelle, ich bin dieser Versuchung ausgesetzt. Besonders, wenn ich selbst als Kind Machtmissbrauch erlebt habe. Dann habe ich entweder Angst und verschließe die Augen oder ich bin aggressiv und wiederhole, was mir angetan wurde. Ich muss ganz für mich allein vor meinem Gewissen Verantwortung für mein Handeln oder Nichthandeln übernehmen. Dazu frage ich mich immer wieder aufs Neue: Habe ich meine Macht ausgenutzt oder habe ich liebevoll gehandelt? Habe ich meine Macht genutzt, um die mir anvertrauten Menschen, Tiere und Umwelt gut zu versorgen, zu pflegen und zu fördern? Auch die umgekehrte Frage ist wichtig: Habe ich aus Angst vor einem Mächtigeren nicht gehandelt oder gesprochen? War ich zu feige und habe auf diese Weise Anderen geschadet oder Schaden ermöglicht?

Wenn wir vor uns so Rechenschaft ablegen, werden sich viele Probleme auflösen, einschließlich der Ausbeutung der Erde. Wir könnten eine Gesellschaft erschaffen, in der die Kinder ohne Angst aufwachsen und zu freien selbstbestimmten Menschen werden, die Machtmissbrauch nicht dulden und Macht richtig nutzen.

Das ist die großartige Chance, die wir als Eltern von Kindern haben. Unser Verhalten gegenüber den Kindern auf der Basis von Liebe, Mitgefühl und Achtung garantiert, dass die Familie das ist, was sie sein soll: Ein Nest voller Wärme, in dem die kleinen Küken gedeihen. Als Eltern werden wir die Früchte dieser Selbstkontrolle ernten, nämlich in einer liebevollen natürlichen Beziehung zu unseren erwachsenen Kindern.

Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker

Zum Weiterlesen:
Jesper Juul: „Dein kompetentes Kind“
Marshall Rosenberg: „Gewaltfreie Kommunikation“