Sex oder Selters
Über Sexualität herrscht so viel Verwirrung in unserer Gesellschaft. Überall sind wir damit konfrontiert, überall wird uns eingeredet, welcher und wieviel Sex normal sei, was noch alles interessant sei und man ausprobieren müsse und wie wir das Sexleben beleben könnten usw. Realität in Beziehungen ist aber, dass das Sexleben mit der Zeit nachlässt und weniger wird, dass sich Unzufriedenheiten und Unstimmigkeiten einstellen und dass die Partner denken, sie seien nicht normal, weil sie kein solches Sexleben haben wie in den Illustrierten. Manche versuchen es mit neuen Eroberungen, manche mit Seitensprüngen, manche mit Pornografie, manche mit Verweigerung. Es gibt viele verschiedene Umgehensweisen, keine davon schafft auf Dauer ein glückliches Liebesleben. Der typische Konflikt zwischen Frau und Mann ist, dass die Frau „zu wenig“ und der Mann „zu viel“ Sex will – nach der Ansicht des jeweilig Anderen. An diesem Punkt kommen die Paare dann oft nicht mehr weiter, weil ein Teufelskreis entstanden ist: Sie zieht sich zurück und er macht Druck. Je mehr Druck er macht, umso mehr zieht sie sich zurück. All das ist das Ergebnis der Unwissenheit und Falschinformationen, die über Sexualität in Umlauf sind.
Wir müssen uns als erstes klar machen, dass mit Sex Geld verdient wird und das ein Wirtschaftszweig ist. Dieser Wirtschaftszweig hat ein Interesse daran, dass wir alle nicht wissen sollen, wie natürliche Sexualität, die uns zufrieden macht, funktioniert, sondern dass wir wir aus Unzufriedenheit deren Produkte kaufen sollen.
Als nächstes ist es wichtig, sich noch einmal daran zu erinnern, woher das eigene Wissen über Sexualität kommt: aus Jugendzeitschriften, aus Gesprächen mit Gleichaltrigen, aus Filmen und aus dem Vorbild der Eltern. Wer hat es erlebt, dass ein erfahrener Erwachsener offen, kompetent und bejahend über Sexualität mit ihr/ihm gesprochen hat? Ich kenne niemanden.
Gehen wir diese Quellen der Reihe einmal durch:
Die Zeitschriften schreiben das, was dem Zeitgeist entspricht und neugierig macht, sie wollen schließlich gekauft werden. Es muss also schon ein wenig Sensation drin sein und die jungen Leute anlocken.
Die Gespräche mit Gleichaltrigen sind Gespräche mit ebensolchen Unwissenden wie sie selbst. Da wird angegeben, gelogen, verheimlicht. Niemand will in dem Alter mit Unsicherheiten, Ängsten oder Fehlversuchen erwischt werden.
Die Filme bedienen ganz gezielt die Fantasien beider Geschlechter und zwar geschlechtsspezifisch Liebesromanzen für die Frauen, starke Helden für die Männer. Frauen fantasieren davon, wie sie erettet werden von einem starken Mann, der um sie wirbt oder kämpft, der sensibel, selbstsicher und treu ist und eine Familie mit ihnen gründet und er ein lieber Papa wird. Die Männer fantasieren davon, wie sie Feinde in die Flucht schlagen und zwischendurch schnellen pornografischen Sex haben mit den Frauen, von denen sie angehimmelt werden. Oder die pornografischen Filme, bei denen Männer lernen, mit Bildern von weiblichen Geschlechtsteilen, Stellungen, Superkörpern und allseits bereiten Frauen Orgasmen zu haben.
Die Eltern geben ihre Einstellung zu Sex weiter, ob sie davon sprechen oder nicht. Da kommen Bemerkungen über Sex, da Kommentare zu anderen Leuten. Auch was die Mutter über Männer im allgemeinen und den Vater im Besonderen sagt, ist prägend, genauso umgekehrt der Vater über Frauen. Wichtig ist auch das einfache Vorbild: Wie ist die Beziehung der Eltern untereinander? Sind beide zärtlich, freundlich, liebevoll im Umgang oder anders?
Dann kommen die ersten sexuellen Erfahrungen. Mädchen mit ihren Fantasien treffen auf Jungs mit deren Fantasien. Das kann nicht gut gehen. Nichts davon hat irgendetwas mit der Realität zu tun. Beide sind auf sich allein gestellt. Meistens geht es für die Mädchen schlecht aus, denn sie hat sich auf Zärtlichkeit gefreut und bekommt einen Akt, in dem der junge Mann seine aufgestaute Lust ablädt. Das wird zurecht von beiden als wenig befriedigend erlebt. Die ersten Vorurteile gegenüber Männern und Sex und Frauen und Sex werden gebildet und in spätere Beziehungen mit genommen.
Soweit skizziert dürfte klar sein, dass Probleme im Liebesleben vorprogrammiert sind. Es könnte aber auch anders sein, wenn wir mehr darüber wüssten.
Sexualität ist Teil einer zärtlichen körperlichen Beziehung. Nicht die Sexualität ist die Hauptsache und der Rest ist Vorspiel. Erst die zärtliche Berührung erweckt in einer Frau die Bereitschaft, sich zu öffnen. Erst die Vereinigung mit einer Frau, die für ihn bereit ist, kann einen Mann wirklich befriedigen. Wenn beide ihre Liebe füreinander in der körperlichen Nähe ausdrücken und dabei achtsam und sanft sind, wird Sexualität zu einer zutiefst nährenden Erfahrung. Sexualität auf diese Weise gelebt macht satt und nicht süchtig.
Dazu müssten beide Geschlechter aufhören, ihre Fantasien oder Vorurteile zu pflegen. Frauen und Männer brauchen für diesen Weg die Einsicht, dass sie Sexualität neu lernen müssen. Wenn ein Mann versteht, dass jede Frau ein total empfindsames Wesen ist, das alles registriert, was er denkt und fühlt und er ihr nichts verheimlichen, nichts vormachen kann, dann ergibt sich als Konsequenz von alleine, dass er präsent und ganz auf sie konzentriert sein sollte. Sie wird es merken und sich angenommen und wohl fühlen. Es würde beiden gut tun, ehrlich zu sein, ehrlich zu leben, mit dem Körper und Gedanken achtsam umzugehen. Wir kommen hier wieder auf das Thema Achtsamkeit, dem ich einen eigenen Artikel gewidmet habe. Für die neue verbindende Sexualität ist Achtsamkeit notwendig. Mit Achtsamkeit und Präsenz können die Partner dann erst wahrnehmen, was wirklich in ihnen passiert. Welche Empfingungen sind da? Welche Emotionen sind da? Welche Blockierungen sind da? Welche Ängste usw. Diese Beobachtungen werden dem Partner, der Partnerin ehrlich mitgeteilt. Dann ist Aufrichtigkeit da statt Fantasie, dann besteht die Chance zur Heilung all dieser Störfaktoren.
Wenn das gelingt, dann kann sich die Frau fallen lassen, weich werden und sich ihrem Mann hingeben. Das ist für den Mann das Schönste, was er beim Sex erleben kann. Er wird die Schönheit der Frau erkennen. Und das wiederum ist das Schönste, was eine Frau mit ihrem Mann erleben kann, nämlich dass er ihre Schönheit, Sanftheit und Weichheit zum Leben erweckt.
Wenn Sexualität Teil der zärtlichen Liebesbeziehung wird, dann erkennen sich beide Geschlechter in ihrer Schönheit.
Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker
Zum Weiterlesen:
Diana Richardson „Zeit für Liebe“
Barry Long „Sexualität auf spirituelle Weise“
Film: „Slow Sex“