Selbstverwirklichung – Von der Raupe zum Schmetterling
In der Psychotherapie spielt dieses Konzept keine Rolle. Dort geht es darum, wieder zu funktionieren oder besser zu reagieren oder schlechte Gewohnheiten abzulegen. Das ist völlig in Ordnung, z.B. wenn sich jemand erst einmal aus dem Chaos freischwimmen muss. Auch das sind wichtige Schritte. Und vielleicht ist das auch genug für dieses Leben. Aber es gibt noch mehr und es kann noch viel weiter gehen.
Die Verwirklichung des Selbst ist ein spiritueller Weg. Gemeint ist das Erkennen des wahren Selbstes. Es wird auch bezeichnet als Selbstrealisation oder Entfaltung des göttlichen Selbst und gilt als Vorstufe der Erleuchtung. Das wahre Selbst wird im Buddhismus als Buddha-Natur, im Hinduismus als Atman (wie Atem oder Odem!) und im Westen als Seele bezeichnet. Zum Begriff „Seele“ gibt es unterschiedliche Definitionen in den Religionen des Westens, die westlichen mystischen Traditionen beschreiben jedoch genau dasselbe wie die östlichen. Es ist unser unsterbliches Selbst, das einen materiellen Körper bewohnt und nutzt. Was wir normalerweise als uns selbst empfinden, ist eine angenommene Identität, eine durch Erziehung und gespeicherte Erfahrungen geformte Persönlichkeit und die Identifizierung mit dem Körper. Diese psychischen Strukturen werden in den spirituellen Traditionen des Ostens als falsches Selbst bezeichnet, denn sie trennen uns von der innersten Wirklichkeit, unserer göttlichen Natur.
Das wahre Selbst ist etwas Unbekanntes, etwas Mysteriöses. Das Wort „Verwirklichung“ meint einen Prozess des Freilegens und Erfühlens dieses unbekannten SEINs und sich ihm anvertrauen lernen. Dieser Prozess geht immer weiter, bis wir erleuchtet sind. Dann erst sind wir angekommen. Das wahre Selbst braucht all die vielen materiellen und ideellen Befriedigungen nicht, es braucht keine Suchtmittel, keine Geselligkeiten, keine Karriere, keine Projekte, keinen Erfolg und keine Anpassungen an das Erwünschte. Das wahre Selbst ist vollkommen frei, furchtlos, voller Liebe und Glückseligkeit. So beschreiben es die spirituellen Meister. Und sie sagen auch, dass es sich niemand vorstellen kann, solange es nicht verwirklicht ist. Wer einen Ruf dahin verspürt, einen Drang zu etwas Höherem, eine tiefe Sehnsucht nach dem wahren Zuhause, kann sicher sein, dass es der Ruf des wahres Selbst ist.
Es beginnt vielleicht damit, dass man im Leben nicht so funktioniert oder sich alles anders entwickelt als gewünscht. Das ist zuerst meistens schmerzhaft, krisenhaft, stark verunsichernd. Aus der Sicht des wahren Selbstes jedoch, ist es etwas Positives. Dieser Mensch bekommt die Chance, aus alten Mustern auszusteigen und sich selbst neu kennen zu lernen. Er/sie hat die Gelegenheit, ein wachsendes Bewusstsein für das zu entwickeln, was in ihm/ihr geschieht. Jede Art von Psychotherapie fördert diesen Prozess. Das Leben stellt Menschen manchmal vor Herausforderungen, um sie weiter zu schubsen und ihnen auf eine höhere Ebene des Bewusstseins zu helfen. Wenn das gefordert ist, dann hilft nur noch loslassen und sich befreien von den bisherigen Ideen, wer ich bin oder nicht bin, von bisherigen Wichtigkeiten und Prioritäten materieller Art, dazu gehören z.B. auch Erfolgsgeschichten, die Idee der Wertlosigkeit oder ein Helfersyndrom. Es wird sich die Erkenntnis vertiefen, dass ich nicht weiß, wer ich bin und dass ich es erst wissen werde, wenn ich alle Ideen davon aufgegeben habe.
Unsere vermeintlichen Probleme sind dabei die besten Wegweiser. Was nicht möglich ist oder nicht mehr möglich ist, darf gehen. Dann kommt vielleicht das Festhalten, das Trauern, das Grollen und Hadern. Auch das darf gehen. Dann vielleicht der alte Schmerz, auch der darf aufgelöst werden. Und warum? Wozu? Um sich zu befreien von den alten Identifizierungen und frei zu werden für das Mysterium, das einen Menschen wirklich von ganz innen heraus zufrieden und glückselig macht.
Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker