Kinder sind ganz einfach, oder?
Der Umgang mit Kindern ist einfach, wenn man sie versteht und weiß, was sie brauchen, um sich gut zu entwickeln. Die meisten Eltern wissen das jedoch nicht und handeln nach „Gefühl“, d.h. spontan und unbewusst. Die Ursache hierfür liegt nach meiner Beobachtung und meinen Studien daran, dass die meisten Menschen sich nicht mehr daran erinnern können, wie es ihnen als Kinder in den verschiedenen Altersstufen ergangen ist. Denn wenn sie das noch wüssten, könnten sie ganz leicht entscheiden, ob sie dasselbe ihren Kindern antun oder anbieten wollen oder nicht. Hat es sich gut angefühlt? War ich glücklich, zufrieden, geliebt – Dann war es gut und ist auch für meine Kinder gut. Hat es sich schlecht angefühlt? War ich traurig, einsam, enttäuscht, verletzt wegen meiner Eltern? – Dann war es nicht gut und ist auch für meine Kindern nicht richtig. So einfach wäre das.
Aber das Erinnern ist nicht einfach. Das wirkliche Erleben hat sich versteckt unter Schutzmechanismen, Anpassungsstrategien oder falschen vom Elternhaus übernommenen Überzeugungen. Die Erinerungen sind aber im Unbewussten gespeichert und werden aktiviert, sobald wir selbst Kinder haben oder mit Kindern in Kontakt kommen. Die Kinder lösen in den Eltern dieselben Gefühle und Reaktionen aus, die sie früher bei ihren Eltern oder Bezugspersonen erlebt haben. Dann reagieren die Eltern wie deren Eltern. Und sie wissen nicht warum, deswegen sagen sie: „Ich kann nicht anders“.
Ich höre und beobachte immer wieder den Umgang von Eltern mit ihren Kindern. Da ist oft Unsicherheit, Hilflosigkeit oder Ärger zu bemerken. Viele wollen es auch wirklich besser machen und richtig machen. Aber wie?
Dazu ein paar Grundsätze, um Kinder (und sich selbst als Kind) zu verstehen.
Ein Kind ist eine voll ausgereifte Seele, wenn es geboren wird. Dieses vollständige menschliche Wesen steckt zwar in einem kleinen Körper, erlebt aber schon im Mutterleib alles mit. Der Säugling nimmt hauptsächlich über die Haut wahr. Das Baby kann an der Art wie es berührt wird erkennen, ob die Person sie liebt oder nicht. Es kann im Umgang der Eltern spüren, ob es erwünscht ist, Freude bereitet oder die Eltern gern mit ihm zusammen sind. Es versucht von Anfang an, die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken und die Eltern zu erfreuen. Das gelingt natürlich nur, wenn es keine körperlichen Beschwerden hat. Mit dem Älterwerden reifen dann die anderen Sinne nach und das Kind nimmt alles wahr, kann es aber nicht richtig interpretieren. Es kann nicht unterscheiden. ob die Eltern von der Arbeit gestresst sind oder vom Kind. Es kann nicht verstehen, dass es beschimpft wird, weil die Eltern sich nicht kontrollieren können, sondern es denkt, dass es nicht liebenswert ist. Daraus folgt ganz klar und einfach: Ein Kind darf man nicht anders behandeln, als man selbst behandelt werden möchte. Ein Kind hat dasselbe Recht auf einen achtsamen und würdevollen Umgang wie die Kollegen, Freunde oder der Chef. Darüber hinaus haben aber Eltern besondere Aufgaben gegenüber einem Kind, weil es noch reifen muss: das Kind lieben, versorgen, beschützen, lernen ermöglichen und unterstützen bei den Reifungsschritten.
1. ein Kind lernt mehr durch das Vorbild als durch reden.
Z.B. wenn eine Mutter ihr Kind anschreit, dass das Kind nicht so schreien soll, dann lernt das Kind folgendes: Solange ich kleiner bin, darf ich nicht schreien, aber wenn ich größer bin als der Andere, dann darf ich den anschreien. Wenn eine Bezugsperson einem Kind also etwas beibringen will, dann muss sie das vorleben durch entsprechendes Handeln, auch dem Kind gegenüber.
2. ein Kind tut alles, um seine Eltern zu erfreuen.
Z.B. Wenn der Vater seine Tochter nur dann beachtet, wenn sie gute Noten aus der Schule heim bringt, dann wird sie alles versuchen, um gute Noten zu bekommen. Wenn ihr das nicht gelingt, dann wird sie auf andere Weise versuchen, den Vater zu beeindrucken, was aber immer eine Form von Anstrengung sein wird. Je weniger sie beachtet wurde, umso mehr wird sie sich anstrengen. Sie hat gelernt: „Allein für mich selbst bin ich wertlos. Ich muss etwas leisten, um so wertvoll zu sein, dass man mich beachtet.“
3. Ein Kind tut alles, damit die Familie funktioniert.
Z.B. Die Ehe der Eltern ist gestört, die Eltern streiten sich viel. Das Kind wird versuchen zu vermitteln, abzulenken, zu harmonisieren. Es hat dazu aber nicht viele Möglichkeiten. Es könnte vielleicht versuchen, so wenig wie möglich aufzufallen oder Ärger zu bereiten, sich anzustrengen, damit die Eltern Freude haben usw. Ein Kind wird die eigene Entwicklung dafür zurückstellen und vielleicht wenig aus dem Haus gehen, um Freundschaften zu schließen oder zu spielen. Auch Krankheit und Tod eines Elternteils rufen solche Reaktionen hervor. Oder mangelnde Belastbarkeit und Überforderung eines Elternteils.
4. Ein Kind tut alles, um gesund zu bleiben
Wenn ein Kind ohne Liebe und Fürsorge, vielleicht sogar mit Gewalt aufwächst, dann wird es Schutzmechanismen entwickeln, die ein größtmögliches Funktionsniveau ermöglichen, auch wenn es dafür andere Nachteile in Kauf nehmen muss. Es könnte sich z.B. in eine andere Wirklichkeit hineinträumen. Es könnte Verdrängungsmechanismen entwickeln bis hin zur Veränderung bestimmter Gehirmfunktionen. Es könnte sich anderen Menschen anschließen wollen, auffallen wollen oder sich apathisch zurückziehen, um sich entweder zu schützen oder die wichtigsten Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Wenn also ein Kind Auffälligkeiten oder Symptome entwickelt, dann sind sie wie unerwünschte Nebenwirkungen solcher Bewältigungsversuche.
5. Ein Kind braucht vor allem Liebe
Das ist das größte und wichtigste Bedürfnis eines Kindes. Es wird alles dafür tun. Es wird merken, wenn es daran fehlt. Es wird sich bemühen, wenigstens ein bisschen davon zu bekommen. Es wird verzweifelt sein, wenn es nicht funktioniert.
Weitere Grundbedürfnisse und Grundrechte sind:
Willkommen sein, Dazugehören, Geborgenheit, Schutz und Sicherheit, Zuverlässigkeit der Bezugspersonen, Aufmerksamkein und Beachtung, Verständnis und Mitgefühl, Wertschätzung, Anerkennung, Selbst machen dürfen, spielen und sich frei bewegen dürfen, Selbstbestimmung, Grenzen vermittelt bekommen, Gefördert-Werden, ein Vorbild haben, Intimität und Erotik, außerfamiliäre enge Beziehungen.
Je älter ein Kind wird, umso mehr rücken die letztgenannten Bedürfnisse in den Vordergrund.
Autorin: Dipl.-Psych. Lydia Decker
Zum Weiterlesen: Jesper Juul: „Dein kompetentes Kind“